Gedankenverloren popelte sie in der Nase, während sie den männlichen und den weiblichen Stein auf ihrem Regal anstarrte. Keine noch so ausdauernde Therapie, keine Pflaster, nicht einmal die möglichen Spätfolgen für ihren ungeborenen Jungen konnten sie von ihrer Sucht abbringen. Einzig und allein das exsessive Popeln in der Nase gab ihr ein einigermaßen entsprechendes Gefühl der Befriedigung.
Schon als Kind hatte sie, vorzugsweise mit dem kleinen Finger der linken Hand, mit einer solchen Lust und Ausdauer in der Nase gepopelt, dass sämtliche Erwachsenen mit jeglicher Erziehungsmaßnahme kapitulieren mussten. Die Mutter Oberin in dem katholischen Heim, in dem sie aufgewachsen war hatte sogar einmal geäußert, eines Tages würde bestimmt der Finger abfallen. Es war ganz klar, dass sie sie damit abschrecken wollte, aber darauf war sie nicht reingefallen. "Maria-Maja" hatte die Mutter Oberin dabei mit mahnender Stimme gerufen, "Maria-Maja, ich weiß nicht, was aus dir noch einmal werden soll. Du wirst dir noch deine schöne Handschrift verderben, wenn du weiter so in der Nase bohrst". Das war natürlich so ziemlich die absurdeste Behauptung überhaupt, denn Maja-Maria war Rechtshänderin. Maja, diesen Namen hatte ihre Mutter ausgesucht, die eine Vorliebe für die Biene Maja gehabt hatte. Genaugenommen eigentlich für das Lied von der Biene Maja, noch genauer für die jugendlich frische Stimme des Sängers. Maria wurde sie nach der Mutter ihres Vaters benannt und alle waren dann gestorben, als sie sechs Jahre alt war. So war sie in das Heim gekommen zu den Nonnen. Die bevorzugten natürlich den Namen Maria und Freitags gab es Fisch.
"I believed in my dreams, nothing could change my mind, till I found what they mean, nothing can save me now" Im Hintergrund lief die leicht depressive Musik von The Alan Parsons Project, zu der ihre Katzen einen bizarren Tanz aufführten, einander umkreisend und mit hocherhobenen Schwänzen, deren Enden zitterten. Unwillkürlich musste sie grinsen. Es sah wie eine Rumba aus. Langsam begann sie, sich zu wiegen und einige Schritte zu wagen, doch der Junge in ihrem Bauch drückte mächtig. Wehmütig dachte sie an die Meisterschaften in den lateinamerikanischen Tänzen, die sie gewonnen hatte, bevor sie die 20 Kilo zugenommen hatte. Dabei war sie jetzt erst im 7. Monat. Dieses Kind schien ein Monsterjunge werden zu wollen. "Wissen sie, Erstgeburten von älteren Tieren werden oftmals größer und kräftiger. Das sollten sie wissen, Kollegin" hatte ihr Frauenarzt gemeint und dabei meckernd über seinen grandiosen Witz gelacht. Sie konnte ihn nicht leiden, doch hier in einer Kleinstadt wie Husum hatte sie keine große Auswahl gehabt. Das nächste Mal, wenn er mit seinem asthmatischen Dackel in ihre Praxis kommen sollte, würde sie diesem ein kräftiges Abführmittel verabreichen, das schwor sie sich.
Im Nebenraum piepste der Computer ihres festen Freundes. Leicht ächzend stemmte sie die Hand ins Kreuz und watschelte mühsam nach nebenan. Auf dem Bildschirm blinkte "Sie haben eine Nachricht". Sie riß einen Zettel vom Notizblock, schrieb "Du hast eine Nachricht" darauf und klebte diesen an den Spiegel im Flur. Dahin würde ihr fester Freund als erstes sehen, das wusste sie. Aus dem Spiegel starrten ihr grüne Augen entgegen, eingehüllt in braune Haare, die zu einem losen Zopf gebunden waren. ..."I've been through times when no one cared, words that were mine...". Alan Parson war auf Dauer-Repeat eingestellt. Sie hatte die Zeit um sich herum völlig vergessen und strich rhythmisch über den samtig blauen Stoff der weiten Tunika, die die Farbe ihrer Lieblingsblume hatte. Das schrille Bimmeln der Türklingel holte sie in die Jetzt-Zeit zurück. Gleichzeitig mit dem Öffnen der Tür drang ein ekliger Gestank von kaltem gebratenem Fisch in ihre Wohnung, so dass sie beinahe Kotzen musste. "Frau Menzel-Marquardt? Ein Einschreiben für sie. Wenn sie bitte quittieren wollen". Mit zitternden Händen nahm sie den Brief entgegen. Bloß nicht zu tief einatmen.
Rasch lief sie in die Küche, vorbei an der schleudernden Waschmaschine und ließ sich aufatmend auf einen Stuhl sinken. Der Brief war von ihrer Tante aus Chile, mit der sie früher stundenlang Doppelkopf gespielt hatte. Kurze Zeit hatte sie bei dieser Frau gewohnt, nachdem sie das Heim fluchtartig mit 15 Jahren und einem Motorrad verlassen hatte, das vor den Toren gestanden hatte. Sie hatte es nicht als Diebstahl gesehen, andere ja. Deshalb war sie in therapeutische Behandlung gekommen. Ihre Tante fragte, ob sie nicht endlich einmal "auf Urlaub" nach Chile kommen wollte. Natürlich hatte sie dafür kein Geld. Als sie nach der Waffelpackung auf dem Tisch griff, fiel ihr daraus eines dieser schrecklichen Pocémon-Abziehbilder entgegen. Die wollte sie für das Kind sammeln, beschloß sie, wobei sich ihr Finger automatisch zur Nase hob. Waffeln knabbernd sah sie sich um: Der Echinocactus müsste dringend einmal umgetopft werden, außerdem wollte sie auf keinen Fall die Blüte ihrer Selenicereus grandiflorus verpassen. Diese "Königin der Nacht" war ihr größter Schatz, die Öffnung der Blüte stand kurz bevor. ..."and all my nightly dreams are where thy dark eye glances..." , immer noch Alan Parson im Ohr, griff sie nach dem "Küstenbewohner", der auf dem Tisch lag. Eine der Kontaktanzeigen fiel ihr besonders ins Auge:
ER, 26/180, schl., sehr sportl. (Speedboat+Rafting), Herzensbrecher mit grün-grauen Augen, die DIR alles glauben, dunkelbl. kurzes Haar, Finanziell unab. da verm., Leiter einer aufstreb. Internetag., Auto-u. Karrieregeil, Weltbürger, sucht Dich. Du darfst gerne 10 J. älter sein, nur lass mich nicht länger so allein. Chiffre NEO1999.
"Du meine Güte" dachte sie lachend, "das klingt ja fast so, als ob Keanu Reeves nach einer Frau suchen würde." Bei der Vorstellung, dass Keanu Reeves je in seinem Leben eine Kontaktanzeige aufgeben sollte, musste sie lachen. Dann hievte sie sich hoch, um ihre Usams zu gießen. Aua! Die untere Amalgamfüllung ziepte recht heftig. Eigentlich müsste sie noch einmal zum Zahnarzt. Im Hintergrund dudelte ..."and all my days are trances...".